Manfred Spindler / Klaus Klarer
in: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, Heft 1/2006, 12-17


Die optimale Umgangsregelung bei hochstrittiger Trennung und Scheidung

 

Oder: Wie viel Vater und Mutter braucht das Kind?

Bei Trennungs- und Scheidungsfamilien zeigt familienpsychologische Beratung zur Umgangsanbahnung und Umgangsregelung meist gute Erfolge. Es bleibt aber eine Restgruppe, die hier nur sehr schleppend oder gar nicht vorankommt. Deren typische Charakteristika werden vorgestellt und Folgerungen für das Familiengericht und die familienpsychologische Arbeit angeregt.

INHALT

§      Kontakt- und Beziehungspflege ist vielgestaltig

§      Arbeit mit hochkonflikthaften Umgangsauseinandersetzungen

§      Bewährtes Vorgehen der Umgangsanbahnung und Umgangsberatung kann an Grenzen stoßen

§      Phänomenologie anhaltender Streitigkeiten zur Kontaktausgestaltung mit besonderer Berücksichtigung der Argumentation zum Kindeswillen

§      Folgerungen für Gericht, Begutachtung und Umgangsanbahnung

§      Literatur

 

Kontakt- und Beziehungspflege ist vielgestaltig

In der Regel gestalten Familien ganz selbstverständlich eigenständig ihre Beziehungs- und Kontaktpflege, die Eltern untereinander und mit ihren Kindern. Dabei hat jede Familie ihre eigenen Muster, ihre Traditionen, ihren spezifischen Stil. Umfang, Art und Weise dieser Regulation hängen von vielen Faktoren ab, wie z.B. persönliche Eigenarten und Vorlieben, Temperamentspassung, oder auch von materiellen, räumlichen und sozialen Gegebenhei­ten. Es handelt sich um einen dynamischen Prozess, den alle Beteiligten gemeinsam ge­stalten und regulieren, der sich über die Zeit und die Entwicklungszyklen der Familie und ihrer Mitglieder fortschreibt. Bei Problemen und Schwierigkeiten in ihrer Beziehungsregulation suchen Familien Unterstützung in ihrem sozialen Netz oder bisweilen Rat bei einer Fachinstitution, z.B. einer Erziehungsberatungsstelle.

Eheleute O., zusammenlebend mit ihrem siebenjährigen Sohn, suchen uns auf, weil sie innerhalb ihrer Familie eine Kontaktregelung zum Kind wollen. Beide Eltern sprechen seit Jahren praktisch nicht mehr miteinander. Unternehmungen finden nur von Vater und Sohn oder Mutter und Sohn statt. Beide Eltern konkurrieren heftig um das Kind und wollen nun geregelt wissen, welche Wochenenden der Mutter, welche dem Vater gehören, wer das Kind wann zu Bett bringt usw. Was ist hier zu raten? Welches Ausmaß an Umgang mit wem ist dem Kindeswohl am zuträglichsten?

Traditionell wird dort Hilfe zur Selbsthilfe gegeben, mit den Beteiligten wird gemeinsam nach Wegen gesucht, die für die spezielle Familie in ihrer psychosozialen Situation gangbar sind. Die Klienten werden begleitet auf der Suche nach ihren eigenen Lösungswegen, wie sie miteinander leben wollen, und sie erhalten nicht Vorgaben oder Empfehlungen, wie sie miteinander leben sollten.

Die Trennungssituation fordert diese Eigenregulationskräfte der Familien in hohem Maße heraus. Einschneidende Änderungen der Lebenssituation und Neuorientierungen in der Pflege und Qualität familiärer Beziehungen greifen ineinander. Oft kommt es an diesem Punkt zu schwierigen Auseinandersetzungen über die Besuche und Kontakte des ausgeschiedenen Elternteils mit seinen Kindern, die beim betreuenden Elternteil verblieben sind. Gleichzeitig, oft mehr im Hintergrund und nicht so spektakulär in Erscheinung tre­tend, sind Mutter und Vater gefordert, ihre

Die Autoren Manfred Spindler und Klaus Klarer arbeiten als Diplompsychologen in der Psychologischen Beratungsstelle Kempten/Allgäu

Elternbeziehung so zu definieren und zu le­ben, dass sie beide in der Lage sind, ihr Sor­gerecht und ihre Sorgepflicht angemessen auszuüben. Auch die Kinder haben vielfältige Umstellungen vorzunehmen oder zu ertragen und Anpassungen zu leisten. Familien unter­scheiden sich darin sehr, wie sie konkret ihre Beziehungen pflegen und ausgestalten und welcher Einfluss dabei den Kindern zugestan­den wird.

Die meisten Trennungsfamilien sind in der Lage, ohne Gericht oder langwierige Um­gangsberatung selber diesen Wendepunkt zu bewältigen und Formen der Beziehungsregu­lation zu finden, mit denen alle Beteiligten le­ben können und wollen. Die Kontakt- und Beziehungspflege nach der Trennung kann wiederum sehr unterschiedlich in Art und In­tensität aussehen. Das entscheidende Cha­rakteristikum dieser Familien ist nicht eine bestimmte Art und Weise oder gar Qualität der Beziehungspflege. Das entscheidende Kriterium ist: Sie rufen nicht Fachdienste und Ge­richte in dieser Frage an. Die (gerichtlichen) Auseinandersetzungen um den Umgang sind, wenn überhaupt, dann kurz und rasch abge­schlossen, die Beteiligten sind sich soweit ei­nig, dass nicht ein Elternteil oder ein Kind re­belliert und Änderungen durchsetzen will.

Herr B. leidet an einer chronischen Psychose und nimmt regelmäßig begleiteten Umgang mit seinem fünfjährigen Sohn wahr. Vater und Sohn verstehen sich recht gut, der Junge freut sich immer sehr, den Vater zu sehen. Der Kontakt zwischen Vater und Kind wird von der (allein sorgeberechtigten) Mutter wohlwollend unterstützt mit der Auflage, dass die Kontakte an der Beratungsstelle stattfinden. Herr K verschwindet über Monate, meldet sich wieder bei uns und lässt der Mutter wie auch seinem Sohn durch uns ausrichten, dass er bis auf weiteres die Kontakte einstellt, da er mit sich selber genug beschäftigt sei. Die Mutter akzeptiert dies. So ist er eben, der Vater.

Der 12-jährige Kevin besucht, mit Billigung und Unterstützung seiner Mutter wie seines Stiefvaters, seinen leiblichen Vater regel­mäßig, allerdings nicht nach festem Plan, sondern so, wie er sich mit seinem Vater abspricht. Immer wieder enden die Besuche im Streit, oder weil der alkoholkranke Vater volltrunken in seiner Wohnung liegt. Mit der Zeit verschlechtert sich der Zustand des Vaters in einem Maße, dass der außen stehende Betrachter den Eindruck gewinnt, dass der Sohn das langsame Sterben des Vaters, wie er sich zu Tode trinkt, miterleben muss.

Die dreijährige Anna trifft ihren Vater an der Beratungsstelle. Die Kindesmutter hatte die Initiative dazu ergriffen, war vor Gericht ge­gangen, um ihrer Tochter Kontakt zum Vater zu verschaffen, In einer Anhörung hatte der Richter dem Vater ins Gewissen geredet, sich doch um seine Tochter zu kümmern. Anna, die ihren Vater monatelang



 

 


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nicht sah, geht freudig, völlig unbefangen und mit zahlrei­chen Spielangeboten auf den Vater zu. Dieser, ein von Drogen schwer gezeichneter Mann, nimmt 3 Termine wahr und bleibt danach verschwunden.

Inwieweit die familiären Regelungen dem Kindeswohl entsprechen, der Entwicklung einer gesunden kindlichen Identität dienlich sind, wird in diesen Beispielen von den Eltern beurteilt und beantwortet, weder dem Gericht noch Fachgutachtern stellt sich die Frage, da sie nicht eingeschaltet sind. Wie sich bei diesen Beispielen die Kontaktangebote und Formen der Beziehungspflege kurz-, mittel- und langfristig auf das Kindeswohl auswirken, ob sie sich überhaupt auswirken, lässt sich wissenschaftlich solide nicht vorhersagen oder beurteilen. Ebenso wenig gibt es alternative Vorschläge, die für das Kindeswohl förderlicher wären und breiten oder allgemeinen Konsens in der Psychologie finden würden.

Arbeit mit hochkonflikthaften Umgangsauseinandersetzungen

Daneben gibt es aber eine Gruppe von Familien, die selber keine befriedigende, von allen akzeptierte Regelung der Besuchs- und Umgangsregelung finden, darüber chronisch streiten und vorn Gericht oftmals zu familienpsychologischen Fachdiensten verwiesen werden. Für diese Familien sind mittlerweile professionelle Angebote entwickelt und etabliert, wie Umgangsbegleitung und Umgangs­anbahnung mit dem erklärten Ziel, dass die Eltern selber ihre Fähigkeiten und Kompetenzen wiedergewinnen und Konsens über Um­gangs- und Kontaktfragen herzustellen. Viele hochstrittige Fälle können in einem spezi­fischen Beratungsprozess einvernehmliche und tragfähige Regelungen erzielen und Annäherungen zur Umgangsfrage herausbilden. Die bewährte Weise unseres Vorgehens ist, den Kindern und Jugendlichen abzuverlangen, vor Gericht oder im Gespräch bei uns verein­barte Zeiten mit dem abgelehnten Elternteil zu verbringen, sich ihm oder ihr auszusetzen. Beim betreuenden Elternteil kann der Aufbau einer Förderung damit begin­nen, dass er oder sie das zunächst zu ertra­gen lernt. Wir erwarten nicht Zustimmung oder Zuneigung. Hier ist eine gerichtliche Beratungsempfehlung sehr hilfreich und für die Beteiligten motivierend. Hilfen für das Kind aber auch für die Eltern in dieser Situation müssen nicht nur seitens professioneller Helfer erfolgen, sondern vor allem von den Eltern selbst. Gerne stellen wir beiden Eltern die Aufgabe sich zu überlegen, wie sie das Kind und den anderen Elternteil hier unterstützen können und dies aktiv umsetzen.

Wir trennen zwischen Spekulationen, Be­hauptungen, Berichten von Vorerfahrungen und unseren Beobachtungen. Wir verschaffen uns ein Bild, indem wir die Familie in der strittigen Situation beobachten. Dies umfasst die Bring- und Abholsituation sowie die Umgangssituation selber, darüber hinaus die begleitenden Reflexions- und Planungsgesprä­che mit den Eltern über die Zeit der Umgangsanbahnung. Dadurch ist ein recht differenziertes Kennen lernen der individuellen Situation möglich. Über einen bestimmten Zeitraum können so auch Entwicklungen, Veränderungen und starre Stagnationen formal wie inhaltlich-argumentativ gut erfasst werden.

Unsere Erfahrungen mit Problemen der Kinder entsprechen oftmals nicht den Erwartungen oder Ankündigungen der Eltern. Kindli­che Ablehnung oder Problemverhaltenswei­sen zeigen sich bei uns meist nicht. Kinder gehen in der überwiegenden Mehrzahl in freudiger Unbefangenheit auf den Elternteil zu den sie angeblich ablehnen, oder eingangs zurückhaltende, zögerliche Haltungen verändern sich rasch und das Kind begegnet dem getrennten Elternteil unbefangen. In vielen Fällen verändert sich die Haltung der betreuenden Elternteile mit Durchführung des Umgangs über die Zeit und die Schutzimpul­se und Kontaktminderungswünsche nehmen ab. Parallel wird die Verständigung der Eltern über Kontakt und Umgang besser. Über die Zeit bei uns finden viele hochstrittige Familien zu einem neuen Gleichgewicht in der Beziehungspflege. Sie treffen dann Regelungen, mit denen alle einverstanden sind, und die dann auch außerhalb unserer Stelle eingehalten werden. Unsere Begleitung ist Übergangsstation und Unterstützung für die Eltern bei deren Kommunikation. Wir geben Regelungen nicht vor, sondern wir unterstützen die Familien, die ihren zu finden. Prinzipiell stehen wir auch für Fragen der Gestaltung des Umgangs zu Verfügung. Dies wird jedoch äußerst selten abgerufen. In der Regel sind die Kontakt suchenden Elternteile auch ohne unsere Hilfe gut dazu in der Lage. Besuchende Mütter und Väter haben ihre eigenen und spezifischen Formen, mit dem Kind Kontakt zu pflegen. Nur sehr selten meinen wir, hier korrigierend eingreifen zu müssen, weil wir Beeinträchtigungen des Kindes befürchten; in der Regel können sie mit ihren Kindern umgehen. Uns verwundert vielmehr immer wieder, was Umgang suchende Elternteile an Rechtfertigungen, Umständen, ja Erniedrigungen und Demütigungen auf sich zunehmen bereit sind.

Umgangsanbahnung und Umgangsberatung kann an Grenzen stoßen

Es bleibt jedoch eine Restgruppe, bei denen die Umgangsanbahnung scheitert und gerichtliche Auseinandersetzungen wieder aufgenommen werden, weil Art und Umfang der zugestandenen Kontakte dem Umgang suchenden Elternteil zu wenig sind oder Umgangsanbahnung nach Kontaktabbruch zu langsam und zu zäh vorangeht, die Verweigerungen des anderen Elternteils und/oder des Kindes anhaltend starr und rigide sind. In diesen Fällen eskaliert die Situation oft so weit, dass Gutachten zu Umgangsfragen, Erziehungseignung u. ä. eingeholt werden.

Die Situation bleibt grundsätzlich langfristig im Dissens, wie viel Umgang dem Kind zumutbar ist. Bei dieser Restgruppe innerhalb der Hochkonfliktfamilien wird vehement, deutlich und über mehrere Umgangssituationen bei uns hinaus Kontakt und Umgang abgelehnt, und nur sehr zögernd und langsam entsteht Bereitschaft, auf den besuchenden Elternteil einzugehen. Oder aber trotz kleinen Annäherungen bleibt eine ablehnende Haltung in einem Ausmaß, mit der der umgangs-suchende Elternteil nicht leben will, und die Beratung stagniert.

Das Ehepaar F. streitet seit langem um den Umgang. (…) unter Einbezug einiger Fachstellen. Der Kontakt zu den Kindern war auch bereits abgebrochen worden. Der Vater sollte nach dem Willen der Mutter höchstens vierzehntägig für eine Stunde unter Aufsicht einer Fachstelle seine beiden acht und zehn Jahre alten Kinder sehen, weil diese Angst vor ihm hätten. In der begleiteten Umgangssituation konnten keine außergewöhnlichen Besonderheiten zwischen Vater und Kindern festgestellt werden. Nach zähen Verhandlungen über einen langen Zeitraum konnte der Mutter nur sehr mühsam weitere Besuchszeiten abgerungen werden. Der Vater, der langwierigen Auseinandersetzung und des Feilschens um die Kinder müde, wandte sich wieder an das Gericht. Die Mutter ist damit einverstanden, denn sie möchte ein Gutachten. Sie geht nämlich davon aus, dass dann die Richtigkeit ihrer Wahrnehmungen und ihrer Haltung bewiesen und dokumentiert wird.

Wir finden bei diesen hochstrittigen Trennungsfamilien spezifische Dynamiken und Prozesse. Ausprägung, Persistenz, Beeinflussbarkeit und Verlauf liegen auf einem Spektrum. Diese Charakteristika sollen herausgearbeitet und Folgerungen für Beratung, Gericht und Begutachtung gezogen werden.

Nicht nur bei Kindern und Jugendlichen kennen wir das Phänomen der Ablehnung des besuchenden Elternteils, sondern sehr viel häufiger sind es massive Bedenken des betreuenden Elternteils. Der Elternteil, der Umgang fordert, hält sich in der Regel durchaus seinen Kindern zumutbar. Zur Begründung von Umgangsabbruch oder



 


massiven Einschränkungen werden Eigenheiten des Expartners/der Expartnerin und/oder seines/ihres Lebensstils vorgebracht, es werden positive Beziehungsmotive und Umgangsabsichten in Abrede gestellt. Eigenarten, die über oft lange Jahre des Zusammenlebens den Kindern durchaus „zugemutet“ wurden, werden seit der Trennung so gefährdend und bedrohlich erlebt oder dargestellt, dass dies der Kontakt- und Beziehungspflege entgegensteht. Häufig wird über das Kind argumentiert. Dieses zeige Angst, Weinen, gestörtes Verhalten oder körperliche Reaktionen wie Einnässen oder Hautausschläge, vor oder nach den Besuchen. Die Begegnung mit dem ausgeschiedenen Elternteil per se wird dafür verantwortlich gemacht. Es wird nicht die Fülle möglicher Erklärungen für kindliches Verhalten oder kindliche Reaktionen gesehen, sondern nur die Tatsache des Umgangs oder der Einfluss des umgangssuchenden Elternteils. Behüten und Bewahren vor einem Zusammentreffen, vor der Kontaktpflege, oder de­ren Minimierung werden als einzig mögliche Konsequenz gesehen und ebenso vehement wie unnachgiebig vertreten. Andere denkbare Maßnahmen und Möglichkeiten werden nicht wahrgenommen. Konsens beider Eltern und daraus entwickelte Maßnahmen bleiben jenseits des Vorstellungshorizonts. Es werden in manchen Fällen Willensäußerungen beim Kind erlebt, nichts mehr oder nur sehr wenig mit dem getrennt lebenden Elternteil zu tun haben zu wollen. Dem schließt sich dann der betreuende Elternteil bisweilen unkritisch an. Gleichzeitig besteht häufig, wenn auch nicht immer, Zustimmung, dass Erziehung sich nicht in Schützen und Bewahren erschöpft, sondern auch Forderungen und Sich-Aussetzen schwieriger Situationen im Leben ihren Platz haben, damit ein Kind lernt und in die Lage kommt, Strukturen, Funktionen und Fertigkeiten auszubilden, an Herausforderungen zu wachsen, um schwierige und unangenehme Situationen zu meistern und zu bewältigen. Von den ablehnenden El­ternteilen wird in vielen Lebensbereichen auch so erzogen, nur und isoliert im Bereich der Kontaktpflege zum ausgeschiedenen Elternteil sind Überzeugung und Handeln anders. Es kann vielleicht noch zugestanden werden, dass das Kind sich über Besuche und Kontakte freut, aber unerwünschte körperliche oder Verhaltensreaktionen werden nur und exklusiv diesem Kontakt angelastet. Es findet eine ausgesprochene Verengung der Sicht und der argumentativen Zugänglichkeit statt.

Professionelle Helfer arbeiten dem bisweilen zu, indem sie Kindverhalten oder körperliche Reaktionen ebenso verengt als ursächliche Reaktion auf einen Besuch von Vater oder Mutter einordnen und Abstand empfehlen, sich mit dem ausgedrückten Kindeswillen oder der Wahrnehmung des betreuenden Elternteils identifizieren. Institutionen, die sich als „parteilich“ bezeichnen, vertreten mitunter programmatisch die Übernahme und Unterstützung der Sichtweisen und Maßnahmen kontakthindernder betreuender Eltern oder ablehnender Kinder. Wenn also zeitlich zusammenhängend mit Trennung Probleme entstehen, so wird als Kur Vertiefung der Trennung und weitere Kontaktminderung empfohlen. Es kommt hier zu logisch schwer nachvollziehbaren Folgerungen.

Der Kindeswille, und was einem Kind zumutbar ist, wird in alltäglichen Erziehungskontexten auch von professionellen Helfern oft anders gehandhabt und empfunden als in der Frage der Besuchskontakte: Wenn ein Kind nicht zur Schule gehen will, nicht zum Zahnarzt, nicht zum Psychotherapeuten oder sich nicht wäscht, werden Fragen der Zumutbarkeit und des Kindeswillens völlig selbstverständlich relativiert. Oder: Was passiert, wenn ein Kind in der nicht getrennten Familie Mutter oder Vater ablehnt? Soll sie oder er dann ausziehen, weil er oder sie dem Kind nicht zumutbar ist?

Wir gehen davon aus, dass der kindliche Wille relativ zu gewichten ist und die unterliegenden, ihn definierenden oder konstruierenden Faktoren ganz vielfältig sein können. Weiterhin sind wir der Meinung, dass der Wille des Kindes mit dem Kindeswohl in Konflikt geraten kann und dass Erwachsene eher das Kindeswohl abwägen können als die Kinder selber. Kinder sind nicht in der Lage, Verantwortung der Sorgeberechtigten zu tragen. Eltern, die hier nicht zu einem tragfähigen Ergebnis kommen, können hier dem Kindesrecht und Kindeswohl nicht gerecht werden. Ein Ansatz der darauf hinausläuft: „Du brauchst deinen Vater erst zu treffen, wenn du ihn liebst und magst“, ist möglicherweise ein gravierenderer Eingriff und erzeugt höheren Verantwortungsdruck, als wenn das Kind sich auch gegen seinen Willen der ungewünschten Situation aussetzen muss, ohne dass sein formuliertes Empfinden in Frage gestellt wird: „Du musst deinen Vater nicht lieben oder mögen, aber du musst ihn treffen und Zeit mit ihm verbringen“. Bestimmte Grenzen sollten unserer Ansicht nach von den zuständigen Erziehungspersonen aufgestellt, Kinder und Jugendliche nur ihrem individuellen Entwicklungs- und Reifungsstand entsprechend beteiligt werden. In der konkreten Ausgestaltung sind die Kinder ohnehin beteiligt, je nachdem, wie sie auf Angebote etc. eingehen, sie ge­stalten ja Kontakt und Umgang mit.

Bei Kindern und Jugendlichen stellen wir Ähnliches fest: Es gibt hier, wenn auch selten, Umgangsverweigerungen, die mehr oder weniger lange andauern.

Bleibt es dabei, dass alle Verantwortung dem Kind oder Jugendlichen aufgebürdet wird („Wenn dir danach ist, kannst du deinen Vater treffen, wenn nicht, dann nicht“), verschafft dies dem Kind zudem eine unangemessene Machtposition. Die Erwachsenen eliminieren ihren Einfluss an diesem Punkt und schwächen damit ihre Erziehungsstellung. Macht-, Bestimmungs- und Entscheidungsprimat der Sorgeberechtigten wird dann von Kindern oft auch in anderen Bereichen in Frage gestellt und abgelehnt. Damit reduzieren solche Eltern, die Kinder über ihre altersgemäße Berücksichtigung hinaus einbeziehen und zu Entscheidungsträgern machen, mittelfristig ihre Erziehungskraft und schwächen nicht nur den anderen Elternteil, sondern auch sich selber.

Der mittlerweile 18-jährige A. tritt wieder mit seiner Mutter in Kontakt und bedauert die gegenseitige Entfremdung Vorausgegangen waren jahrelange Auseinandersetzungen der getrennten Eltern. A, der bei seinem Vater lebte, wollte die Mutter nie sehen, und nie kam Umgang in der Vergangenheit zustande. Nun trennte er sich im Streit vom Vater, dessen Autorität er nicht mehr anerkannte. As Mutter ist nun äußerst zurückhaltend und misstrauisch gegenüber dieser Kontaktsuche. Der Vater hat ein gutes Gewissen, hat er doch immer nur den Willen seines Sohnes unterstützt, A wiederum seinen Vater jahrelang im Krieg gegen die Mutter.

Der Kindeswillen selber kann nur erschlossen und nicht direkt gemessen werden. Es handelt sich um Konstruktionen vom Innenleben eines Kindes und je nach Methodik, Person und Beobachter und Situation kann es zu unterschiedlichen Feststellungen kommen.

Ein Charakteristikum der Kontakt hemmenden Elternteile bei hochstrittigen Fällen ist die beschriebene Rigidität, die Unzugänglichkeit gegenüber logischer Argumentation, die Verengung auf eine von vielen möglichen Sichtweisen. Analogien stoßen auf Unverständnis und werden als „das ist etwas völlig anderes“ abgewehrt. Die eigene emotionale Überzeugung reicht als Begründung unhinterfragt und unhinterfragbar aus. Die Tatsache, so zu empfinden, wird als Beleg für die Wahrheit genommen. Die persönliche Subjektivität wird zur Objektivität. Ebenso ist das Vorherrschen statischer Menschenbilder zu vermerken, Die Kontaktsuche eines Elternteils entspringe beispielsweise nicht dem Interesse am Kind, sondern irgendwelchen anderen Motiven, da er/sie sich in der Vergangenheit nie um das Kind gekümmert habe. Er/sie sei ganz anders als er/sie sich jetzt gibt. Diese Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster sind weder differenziertem Hinterfragen zugänglich (Woran lag es, dass er sich nicht kümmerte? Wie hing das mit mir zusammen? Wo hat er sich doch gekümmert? Welche Rollenmodelle hatten wir in der Familie?), noch ist die Erkenntnis möglich, dass Einstellungen und Verhalten dynamisch sind und sich mit der Lebenssituation verändern können, obwohl gerade



 


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das bei der eigenen Einstellung passierte, die vor der Trennung eine andere war als nach der Trennung.

Bei abweisenden Reaktionen oder Willensbekundungen von Kindern und Jugendlichen sind mehrere Aspekte denkbar, die sich potenzieren können, Zum einen dient bisweilen die Verarbeitungsform eines Elternteils, oder auch beider Elternteile (Kontaktabbruch, Ignorieren, Beziehungsverweigerung) dem Kind als Modell. Es kann sich hierbei um einen „Familienstil“ handeln. Manche Kinder greifen nach unserem Eindruck zu Kontaktabbruch als Bewältigungsstrategie, um schmerzhafte Trennungen oder sonstige psychische Belastungen zu bewältigen. Auch und gerade wenn die Beziehung zum ausgeschiedenen Elternteil früher eher innig und positiv erlebt wurde, kann durch Abspaltung der positiven Gefühlsanteile ein Verlust vordergründig erträglicher gestaltet werden. Schließlich und endlich ist auch die Möglichkeit einer bewussten oder unbewussten Programmierung (PAS) in Erwägung zu ziehen.

Das Ausbleiben wohlwollender Förderung und Einstellung gegenüber Kontakten oder negative Bewertungen nach den Kontakten mag eine Rolle spielen für das Beziehen einer ablehnenden Position, ebenso wenn Ablehnung mit Befriedigung aufgenommen und mehr oder weniger subtil sozial verstärkt wird. Zudem kann ablehnendes Kindverhalten mit einem veränderten Erziehungsstil eines oder beider Eltern nach der Trennung zusammenhängen. Beispielsweise kann ein Vater, der erst nach der Trennung sich verstärkt um das Kind kümmert, als unbequemer zusätzlicher „Bestimmer“ erlebt werden, dem sich ein Kind oder ein Jugendlicher entziehen will. Oder es handelt sich schlicht um Unsicherheit und Verwirrung beim Kind.

Lisa, ein sechsjähriges Vorschulkind, bekommt mit wie nach langen Jahren der Abwesenheit ihr leiblicher Vater sich um Kontakt und Besuch bemüht. Lisas Mutter steht dem recht skeptisch gegenüber, denn eine frühere Initiative des Vaters endete damit, dass er seinen formulierten Wunsch, das Kind sehen zu wollen, nicht weiterverfolgte und nicht zur gerichtlich vereinbarten Umgangsanbahnung erschien. Die Mutter rechnet damit dass es wieder genauso endet und macht sich lustig über das angebliche Interesse des Vaters. Lisa erklärt, ihn nicht sehen und nicht treffen zu wollen. Bei näherer Unterhaltung erscheint beim Kind eine Mischung aus Neugier, Nicht-Wissen und Verwirrung Es bleibt auch im Gespräch mit Lisa nicht beim eindeutigen „Nein“, sondern sie fragt, wann der Vater, den sie mit Vor- und Nachnamen nennt nun komme. Entgegen der Ankündigung seines Anwaltes meldet sich der Vater nicht bei uns. Lisa fragt in ihrer nächsten Spielstunde spontan nach ihm, wann er nun komme, und ihr muss beschieden werden, dass man nichts von ihm gehört habe. In der Stunde darauf äußert sich Lisa dahin gehend, dass er endlich kommen solle.

Anhaltende Ängstlichkeit beim Kind und das Sich-Nicht-Trennen-Können kann auch mit der emotionalen Bindung zum betreuenden Elternteil zusammenhängen: Emotional ungenügend gesicherten Kindern kann die Sicherheit fehlen mit der veränderten Situation umzugehen. In diesem Falle wirft erst die Umgangsfrage und deren konkrete Umsetzung Licht auf die Beziehung des Kindes zum betreuenden Elternteil.

Zu differenzierten Überlegungen zur kindlichen Ablehnung ist diese Restgruppe der chronisch hemmenden und Kontakt verweigernden Personen nicht oder sehr eingeschränkt fähig. Starrheit und Rigidität dieser Empfindungen und Argumentationen kann beraterischen wie therapeutischen Interventionen unterschiedlich zugänglich sein. Dies zeigt sich aber erst über einen gewissen Zeitraum. Ein wichtiges Kriterium hinsichtlich der Prognose besteht darin, ob die Personen willens und bereit sind, an einer Annäherung zu arbeiten, Bei günstiger Prognose ist die Fähigkeit vorhanden oder ein Anbahnungsprozess setzt ein, sich zumindest theoretisch vorstellen zu können, die eigene Sicht zu relativieren, dass der andere und seine Person für sein Kind zumutbar sein könnte, auch wenn momentan anders empfunden wird. Bei vielen hochstrittigen Fällen gelingt dies, aber nicht bei allen. Die beschriebene Starrheit und Rigidität eines Elternteils kann einhergehen mit mangelndem Einfühlungsvermögen in die kindlichen Bedürfnisse und Reaktionen zumindest in dieser Frage. Deutlich wird dies erst in der spannungsgeladenen Umgangssituation, in der kindliche emotionale Sicherung gefordert ist. Nicht feststellbar wäre dies möglicherweise in einer alltäglichen Spielsituation.

An dieser Stelle sei noch deutlich darauf hingewiesen, dass das „Phänomen der Starrheit“ nicht nur bei verweigernden Kindern und Jugendlichen oder betreuenden Elternteilen zu beobachten sein kann. Es kann sich auch ein getrennt lebender Elternteil rigide dem Kontakt und dem Umgang verweigern oder äußerst starre und unflexible Vorstellungen zu Art und Weise des Umgangs und der Umgangsabwicklung haben. Es sind alle denkbaren Kombinationen möglich und in der Praxis erfahrbar. Häufig kommen in den Familien Vermengungen mit anderen Themen vor, bevorzugt mit strittigen. Genau diese Vermischung von Inhalten, die Fokussierung ganz unterschiedlicher Konfliktfelder auf das Thema Umgang hält chronische Konflikte auf verschiedenen Feldern wechselseitig in Schwung. Klassiker sind die Vermengung von Beziehungspflege und Geld („Solange er nicht zahlt, gibt es keinen Umgang“, „Solange ich keinen Umgang habe, zahle ich nicht.“) und die Nutzung des Umgangs, um Kinder oder Jugendliche zu disziplinieren („Wenn das Zimmer nicht aufgeräumt wird, fällt das Besuchswochenende aus.“).

Folgerungen für Gericht, Begutachtung und Umgangsanbahnung

Was sind aber die Alternativen bei Eltern, die sich nicht soweit verständigen können, dass sie ein Recht des Kindes auf Kontakt und Umgang mit beiden Elternteilen regeln können oder sich dieser zentralen Aufgabe verweigern?

Wir sind der Meinung, dass eine Antwort von außen, welche Art der Beziehungsregulation optimal wäre, nur sehr allgemein und nicht konkret auf den Einzelfall bezogen möglich ist. Rechtslage und Modelle der Entwicklungspsychologie bieten keine verbindlichen unumstrittenen Standards zu Art, Umfang und Dauer, mit denen sich eine Entscheidung oder Empfehlung für den individuellen FalI zweifelsfrei legitimieren ließe. Entscheidungen für die Lebenspraxis einer bestimmten Familie in ihrem Lebenskosrnos sind aus unserer Sicht nicht aus rechtlichen Bestimmungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen herzuleiten. Selbst wenn eindeutig zu beurteilen wäre, wie viel Vater oder Mutter dem Kind im individuellen Fall gut tut, bliebe doch noch die Haltung der betroffenen Personen: Was, wenn die das so nicht wollen, nicht können oder nicht tun?

Familien können und müssen ihre Beziehungen in der einen oder anderen Weise selbst regulieren, auch wenn sie getrennt sind. In wenigen Fällen, den hochstrittigen Trennungs- und Scheidungsfällen, fehlt diese Fähigkeit oder scheint gelähmt, in unterschiedlichem Maße, für unterschiedliche Dauer und unterschiedlich beeinflussbar durch familienpsychologische Beratung (Umgangsanbahnung).

Die Experten einer für sie passenden Regelung sind zunächst die Eltern und ihre Kinder. Sie kennen ihre Bereitschaft, Fähigkeiten, Beziehungsstile und Traditionen am besten, wie auch die Anforderungen ihrer Lebenssituation und ihres Lebensfeldes und damit Wege von der theoretisch denkbaren zur praktisch akzeptierten und überzeugend lebbaren Lösung. Beziehungspflege ist ein dynamisches Geschehen und verändert sich auch formal immer wieder entsprechend den Lebensbedingungen, dem Alter der Kinder etc. Eine bestimmte Regelung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt stimmig und passend scheint, kann in einem Jahr schon wieder zu revidieren sein.

Wenn Sorgeberechtigte anhaltend nicht dazu in der Lage sind, so fehlt an diesem Punkt nach unserer Ansicht die Sorge- und Erziehungsfähigkeit. Das Familiengericht ist dann wiederholt mit der Regelung des Umgangs und dessen Umsetzung konfrontiert, Nun ist es möglich, dass die Eltern mit



richterlicher Hilfe sich irgendwie einigen, auch wenn das in Beratung und Umgangsanbahnung nicht möglich war. Aber auch hier gibt es Fälle, die auf eine richterliche Entscheidung drängen. Der Richter ist hier in der Zwangslage, für die Eltern zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen, ohne sich auf rechtlich und wissenschaftlich eindeutige Kriterien beziehen zu können Es stellt sich die Frage, wie viel Vater oder Mutter nun das Kind haben soll. Wir sind der Meinung, dass Überbrücken dieses Mangels durch Gerichtsvorgaben eine unbefriedigende Notlösung darstellt, weil ein Gericht oder ein Gutachter nur sehr grob und rudimentär eine für die individueIle Familie optimale Lösung finden kann. Der dynamischen Anpassung von Beziehungspflege kann auch schlecht Rechnung getragen werden mit punktuellen Entscheidungen. Manche Familiensysteme stellen sich darauf ein und übertragen weiterhin Entscheidungen ihres Verantwortungsbereichs den Ge­richten oder Fachdiensten. Aus unserer Sicht schieben manche Eltern(teile) nicht nur direkt oder indirekt Verantwortung an das Kind („das Kind möchte nicht“), sondern auch an die Justiz ab.

Jessica möchte seit ihrem Auszug aus der Familienwohnung ihren Vater nicht mehr sehen und verwehrt sich ganz vehement dagegen. Die Mutter von Jessica lehnt jeglichen Kontakt, jedes Gespräch mit ihrem Ex-Mann ab. Der Vater geht wiederholt vor Gericht und nach Einschaltung einer begutachtenden Stelle kommt folgende Regelung zustande: Der Vater soll über ein Jahr seine Tochter vierzehntägig für eine Stunde an der Beratungsstelle sehen. Nach einer Phase von Beschimpfungen des Vaters, Verweigerung jeglicher Kontaktangebote (Brettspiele, Gespräch) und Jessicas massivem Drängen, die Besuchskontakte einzustellen, entspannt sich die Situation. Nun verbringen beide vierzehntägig eine Stunde miteinander und auch auf Nachfragen werden weder von Vater, Mutter noch von Jessica Klagen oder Änderungswünsche geäu­ßert. Die Mutter holt und bringt die Jugendliche wie vom Gericht festgelegt zum Umgang. Dabei wechseln die Eltern kein Wort. Diese Umgangs- und Kontaktregelung wurde nicht von den Eltern, sondern letztendlich von Gericht und Gutachtern getroffen. Nach mehreren Monaten befragt, zeigt sich Jessica einverstanden, möchte aber keinesfalls die Stelle mit ihrem Vater bei schönem Wetter verlassen und z.B. spazieren gehen oder Eis essen. Sie „mag ihn halt nicht“. Der Vater seinerseits wartet und hofft auf Bereitschaft seitens .Jessica. Die Familie hat sich also auf die (fremdbestimmte) Regelung eingestellt. Wir fragen uns, was soll nach diesem Jahr passieren? Und versäumt Jessica etwas? So wie wir die Situation einschätzen, wird nach einem Jahr das Gericht erneut für die Familie entscheiden müssen, es sei denn, der Vater resigniert bis dahin.

Dies kann zu immer wieder auflebenden oder chronischen Auseinandersetzungen führen, in denen eine gewisse Anzahl an Gerichten und Begutachtungen und Gegenbegutachtungen in den hochstrittigen Familienprozess gewissermaßen „eingearbeitet“ werden und diese Dynamik zum Beziehungspflegeprozess der Familie wird. Wenn das Problem in der beschriebenen Restgruppe der hochstrittigen Trennungen auch über längere Zeiträume mit unterschiedlichen Beratungsangeboten, gerichtlichen Auseinandersetzungen und Begutachtungen bestehen bleibt, dann ist es bei diesen Familien vielleicht so, dass sie damit ihre spezifische Form der Kontaktpflege gefunden haben. Daraus folgernd würde jede weitere Entscheidung oder Bewertung und Beurteilung (Gutachten) „Wasser auf die Mühlen“ bedeuten und der Entwicklung einer entspannteren, kontliktfreieren Beziehungspflege entgegenarbeiten.

Gerichtliche Umgangsfestsetzungen, ob nun mit oder ohne Einbeziehung fachpsychologischer Gutachter, weisen zudem noch eine immanente Problematik auf: Es gibt Gewinner und Verlierer. „Durch eine gerichtliche Entscheidung wird also häufig der Rest von Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern beschädigt oder zerstört“ (Büte, 2005, S. 24), andererseits: „Sofern keine Elterneinigung erfolgt, hat das Familiengericht den Umgang zu regeln“ (ebd. S. 103).

Es besteht also ein gewisses Dilemma. Verlässliche, unumstrittene, wissenschaftlich gesicherte Richtlinien für Umgangsregelungen im Einzelfall (wie viel Vater, wie viel Mutter braucht ein Kind) kann es wohl aus der Natur der Sache heraus nicht geben und sind vom Gesetzgeber auch nicht vorgesehen, es ist ja nach individueller Lage des Einzelfalls zu entscheiden. In dieser Situation wird mitunter die fachpsychologische Expertensicht eingeholt. Dies kann auf zwei Arten geschehen. Zum einen können nach fehlgeschlagenen familienpsychologischen Beratungen von den entsprechenden Stellen Beurteilungen und Sichtweisen eingeholt werden, zum anderen kann ein familienpsychologisches Gutachten in Auftrag gegeben werden.

Die Experten sollten nun idealerweise klare Aussagen treffen, um für Entscheidungen brauchbare Grundlagen zu liefern. Andererseits können zu Art, Umfang und Ausgestaltung der Beziehungspflege auch von fachpsychologischer Perspektive her wohl nur in den seltensten Fällen „wasserdichte“ Empfehlungen abgegeben werden. Soll der Umgang nun 4, 8 oder 12 Stunden dauern? Mit oder ohne Übernachtung etc. etc.?

Wir schlagen auf dem Hintergrund der oben angestellten Ausführungen eine situationsbezogene, differenzierende und prozessorientierte Diagnostik vor, um dem Gericht ein möglichst umfassendes Bild zu liefern.

Psychologische Verfahren zur Feststellung der emotionalen Beziehungen und der Erziehungseignung, wie Testverfahren, Exploration, Verhaltensbeobachtungen in einer alltäglichen Spielsituation, Persönlichkeitsuntersuchungen, können um wichtige Faktoren ergänzt werden, wenn Frage und Prozess der Umgangsregelung miteinbezogen werden. Der Prozess der elterlichen oder familiären Entscheidungsfindung ist eine lebenswirkliche Situation, die sich vortrefflich diagnostisch nutzen lässt. Wenn wir über einen bestimmten Zeitraum die Familien bei der Aufgabe beobachten, miteinander eine Besuchs- und Umgangsregelung zu suchen, lassen sich wertvolle Hinweise zu den emotionalen Bindungen gewinnen, zur elterlichen Feinfühligkeit, zu Auftreten der beschriebenen Rigidität, zu Kommunikation und Interaktion. Es zeigt sich, ob und wieweit die betreffenden Kinder alters- und entwicklungsabhängig in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, deren Verhaltensäußerungen darauf können wiederum direkt beobachtet werden. in dieser Schlüsselsituation bilden sich der Familienprozess und das Interagieren exakt ab. Wenn wir mit der Umgangsanbahnung beschäftigt sind, gewinnen wir zur Familie, zum familiären Prozess und zu den Anteilen der einzelnen Mitglieder genau diese wertvollen Hinweise. Um den Prozess der familiären Abstimmung und Entscheidungsfindung in dieser Situation systematisch auswerten und beurteilen zu können, sollten Vorgehensweisen und Kriterien dafür entwickelt werden. Dann kann auch eine gerichtlich verfügte Gutachtenerstellung dies in einer Art „Umgangssituationstest“ simulieren und auswerten, wenn die Familie in der Begutachtungssituation die Aufgabe bekommt, eine Umgangsregelung zu erarbeiten.

Wir schlagen aus unseren Erfahrungen und Überlegungen folgende vorläufige heuristi­sche Kriterien vor:

·   Wer aus der Familie trägt wie zum Scheitern einer tragfähigen Umgangsvereinbarung bei?

·   Wie gehen die Eltern aufeinander ein?

·   Welche Rolle spielt bei wem die beschriebene Rigidität?

·   Ist sie mehr aus dem Familienprozess, aus Ratschlägen von Helfern oder aus Persönlichkeitsanteilen her zu erklären?

·   Wie unterstützen alle Familienmitglieder das „Rigiditätsphänomen“?

·   Welche Familienmitglieder besitzen welche Kräfte und Fertigkeiten, die zu einer Vereinbarung der Familie beitragen könnten?

·   Wieweit können Analogieschlüsse, Aufzeigen von logischen Fehlern in Denken und Argumentieren, das Aufzeigen familiärer Muster des gegenseitigen Blockierens von der Familie erkannt werden? In welchem Maße kann das Ergebnis einer






 

Betreuender Elternteil

Kind(er)

Nichtbetreuender Elternteil

Ablehnung jeder Kontakte

Ja/nein

Ja/nein

Ja/nein

Einbeziehung der Kinder

Erscheinung Ausmaß/Qualität

 

Erscheinung Ausmaß/Qualität

Umgangsbedingungen und
-vorstellungen

Welche?

Welche?

Welche?

Starrheit und Unflexibilität

Erscheinung/Ausmaß/Qualität
gegenüber wem?

Erscheinung/Ausmaß/
Qualität/gegenüber wem?

Erscheinung/Ausmaß/Qualität gegen über wem?

Vermischung mit anderen Themen

Erscheinung Ausmaß/Qualität

Erscheinung Ausmaß/Qualität

Erscheinung Ausmaß/Qualität

Erziehungsziele und –metho­den im Beziehungsbereich

Welche?

 

Weiche?


Beobachtung und Begutachtung diskutiert werden? Wird es lediglich pauschal abgelehnt, wenn es der eigenen Sicht widerspricht, oder ist ein Austausch darüber möglich? Die Fähigkeit, eine Metaebene einzunehmen, wäre prognostisch günstig.

·   Wie werden die Kinder konkret einbezogen?

·   Wie verhalten sich die Kinder in der konkreten Situation?

·   Welche Distanz zum Umgangskonflikt ist möglich: Können auch gute und positive Seiten am anderen Elternteil gewürdigt werden?

·   Zeigt sich ein Familienmitglied kompetenter, weniger starr?

·   Wie unterstützen sich welche Familienmitglieder?

Solche und ähnliche noch näher zu entwickelnde Kriterien, angewendet auf die Thematik Umgang, erlauben eine gute Ergänzung der Diagnostik des familiären Geschehens und der Anteile der betroffenen Personen zusätzlich zu herkömmlichen Methoden allgemeiner Prüfung auf die Erziehungs-, Beziehungs- und Umgangseignung, ohne Bezug auf diese konkrete Situation, Als Grobübersicht schlagen wir folgende Auswertungsmatrix vor (Tabelle siehe oben):

Unser Vorschlag ist, nicht nur die Verteilung der Kriterien in der Familie zu untersuchen, sondern auch die interaktiven Prozesse und deren Entwicklung zu erfassen im Verlauf der Umgangsbegleitung oder der gutachterlichen Beobachtungssituation.

Als Ergebnis kann dann dem Gericht die Analyse zur Verfügung gestellt werden, welchen Prozess die Familie eröffnet, wenn sie sich mit der strittigen Frage befasst, nebst Empfehlungen nicht einer konkreten Umgangsregelung, sondern wie die Familie weiterkommen könnte in der Überwindung der identifizierten Dysfunktionalitäten und wie die Eltern wieder ihre Verantwortung übernehmen könnten.

Die Kontakt- und Umgangsfrage könnte eine Situation sein, in der Eltern wie auf einer isolierten Insel andere Einstellungen und Verhaltensweisen erkennen lassen, als dies in anderen Erziehungssituationen oder aus Ergebnissen anderer Begutachtungsinstrumente zu erwarten wäre. Hier können sich manifeste temporäre oder auch überdauernde Beeinträchtigungen zeigen, die ansonsten schwierig zu erfassen sind oder verborgen bleiben.

Die Diagnostik der sich um die Umgangsfrage rankenden Prozesse in diesem „Umgangsvereinbarungstest“ kann das Tor zur Erkenntnis gravierender Defizite und Einschränkungen öffnen, die möglicherweise mit anderen Untersuchungs- und Beurteilungsmethoden weniger deutlich zu fassen sind.

Herr und Frau B. streiten chronisch um Sorgerecht, Aufenthalt und Umgang. In diversen Begutachtungen erscheinen beide, jeder für sich, von ihrer Persönlichkeit und im Umgang mit dem Kind durchaus anderen Eltern vergleichbar. Im Verlauf der Umgangsbegleitung über einen gewissen Zeitraum wird jedoch sehr deutlich, wie beide unbeirrbar das Kind als Waffe gegeneinander missbrauchen. Bei beiden Eltern zeigen sich höchst proble­matische Persönlichkeitszüge, die in der lndividualdiagnostik der Eltern oder in der Beurteilung von Spielsituationen mit dem Kind „unsichtbar“ blieben.

Für das Gericht wird eine differenziertere Informationsgrundlage geschaffen zur Entscheidungsfindung oder eine differenzierte Begründung zum Rückverweis in familienpsychologische Beratung. Denn es könnte statt oder mit einer Entscheidung der Auftrag erfolgen, was die Familie in der familienpsychologischen Beratung noch erarbeiten könnte und müsste (oder z.B. ein Elternteil in Einzeltherapie), um die Sorgefähigkeit im Aspekt Kontakt- und Beziehungspflege (wieder) zu erlangen und damit seine oder ihre Erziehungskraft zu stärken. Eine gerichtlich genau festgelegte Umgangsregelung kann dennoch hilfreich als Einstieg für den weiteren Verlauf der

familiären Entwicklung wie einer weiteren Beratung sein. Allerdings sollte klargestellt sein, dass es sich dabei nicht um einen Endpunkt handelt, sondern nur um eine Station auf dem Weg familiärer Umgangsgestaltung, die fortzuschreiben und weiterzuentwickeln im Verantwortungsbereich der Eltern bleibt. Die Familie wiederum erhält durch diese Art der Diagnostik, wie sie sich aus der Umgangsbegleitung oder analogem gutachterlichen Vorgehen gewinnen ließe, Rückmeldung zu ihren Beziehungsmustern und konkrete Veränderungsempfehlungen.

Für die Umgangsanbahnung und Umgangsbegleitung sehen wir die Aufgabe, die Erfahrungen und differenzierten Kenntnisse über die Familien, die wir über einige Zeit begleiten, systematischer diagnostisch zu erfassen, damit unsere Einlassungen als sachverständige Zeugen vor Gericht zu präzisieren, darüber hinaus therapeutische Folgerungen und Vorgehensweisen weiterzuentwickeln, um die Grenzen der Umgangsberatung zu erweitern und die Effizienz unserer Arbeit zu steigern.

 

Literatur

·   Büte, Dieter (2005): Das Umgangsrecht bei Kindern geschiedener oder getrennt lebender Eltern. Berlin, Erich Schmidt Verlag

·   Dettenborn, Harry & Walter, Eginhard (2002): Familienrechtspsychologie, München, Basel. Ernst Reinhardt Verlag.

·   Dettenborn, Harry (2001): Kindeswohl und Kindeswille. München, Basel. Ernst Reinhardt Verlag

·   Kindler, Heinz (2002): Väter und Kinder. Weinheim, München. Juventa

·   Klinkhammer, Monika; Klothmann, Ursula; Prinz, Susanne (2004): Handbuch begleiteter Umgang. Köln. Bundesanzeiger Verlag

·   Menne, Klaus; Schilling Herbert; Weber Matthias (Hrsg.) (1993): Kinder im Schei­dungskonflikt, Weinheim, München. Invente

·   Rexillus, Günter (2003): In der Falle des Fa­milienrechts. Kindschaftsrechtliche Praxis. Biß. Heft 2, 39—45

·   Wagner, Irene (2002): Ist die Familie noch zu reifen? Berlin. Weißensee Verlag