Kindesmisshandlung

Quälerei ohne Motiv


Mandy N. hat ihr Kind verprügelt, verbrüht und vergiftet. Am Freitag erwartet sie das Urteil vor dem Rostocker Landgericht. Der Hintergrund der grausamen Misshandlung eines Kleinkindes mit Säure bleibt auch zum
Prozessende offen. (11.01.2007, 16:41 Uhr)
Rostock - Dem Umgang mit gefährlichen Reinigungsmitteln ist in der Ausbildung von Hauswirtschaftern ein ganzes Kapitel gewidmet. Mandy N. als gelernte Hauswirtschafterin hätte es also wissen müssen. Warum sie ihrem
Baby, einem Wunschkind übrigens, Essigreiniger und Kalklöser einflößte, sie verbrühte und verprügelte, wird ihr schreckliches Geheimnis bleiben. Die 27-Jährige ist zwar unterdurchschnittlich intelligent, aber nicht dumm.
Sie schaffte die Hauptschule und die Lehre, in Prüfungssituationen aber versagte sie. Sie lernte schnell, auf eigenen Beinen zu stehen, heiratete "ihre große Liebe" Tilo, wurde im November 2001 Mutter. Im Alter von einem
halben Jahr muss Lea-Marie zum ersten Mal wegen unstillbaren Erbrechens und Auffälligkeiten im Mundbereich im Krankenhaus behandelt werden. Ob Mandy N. ihr bereits damals Essigreiniger einflößte, konnte im Prozess nicht bewiesen werden. Laut Gutachten ähneln sich jedoch seitdem die Symptome in insgesamt 27 Arztberichten, 26 davon wurden nach einer stationären Behandlung des Mädchens angefertigt.

Angst vor dem Erinnern

Je älter Lea-Marie wurde, desto mehr wehrte sie sich gegen die Misshandlungen. Desto schlimmer wurden aber auch ihre Verletzungen. Die ätzende Flüssigkeit blieb länger im Mund, weil sich das Mädchen heftig weigerte zu schlucken. Die Schleimhäute des gesamten Hals-, Nasen- und Rachenraumes sowie die Augen wurden angegriffen. Nach der letzten Misshandlung im Sommer 2006 zeigte Lea-Marie im Krankenhaus einer Psychologin an einem Teddy, wie sich die Mutter über den Oberkörper des Mädchens gelegt hatte, um ihren Widerstand zu brechen. Das würde sie heute
nicht mehr erzählen. Sie habe Angst, sich zu erinnern, berichtete die Medizinerin vor Gericht.

Die Speiseröhre des Mädchens war zum Schluss noch so dünn wie ein Strohhalm, bei normal entwickelten Kind hat sie im Durchmesser 16 Millimeter, bei Lea-Marie nur noch fünf Millimeter. Alle zwei Wochen muss die Speiseröhre
unter Vollnarkose gedehnt werden. Sie habe eine panische Angst auch vor kleinen Schmerzen wie Blutabnehmen, erzählte ein Arzt. Nicht nur die Berichte der Ärzte schockten das Gericht, auch die Fotos von den äußerlichen
Wunden. Tiefe Vernarbungen hat das Mädchen an beiden Oberschenkeln von einer Verbrennung, die Mandy N. ihrem Kind im Alter von 15 Monaten angetan hat. Für eine Versicherungssumme von 864 Euro goss sie einen vollen, mit siedend heißem Wasser gefüllten Wasserkocher über das in der Wanne sitzende Kind.

"Wahnsinn was ich meiner Tochter angetan habe"

Das Kind habe damals geschrieen wie am Spieß, erzählte Mandy N. der Polizei. "Wahnsinn, was ich meiner Tochter angetan habe", meinte sie vor Gericht. Mehr zu ihren Motiven konnte sie nicht sagen. Das machte es für Gutachter
auch so schwer, ein Bild vom Seelenleben der jungen Frau zu zeichnen. Sie hörte sich alle Ausführungen interessiert an, Regungen zeigte sie nur beim Schlusswort. Es tue ihr "unendlich Leid", sagte sie, dann rutscht ihr die Stimme weg.

Ihre Familie, Nachbarn, Erzieher aus dem Kindergarten der Tochter und Betreuer vom Jugendamt sind ratlos, ob sie diese Tat hätten verhindern können. Trotz vieler Telefonate mit ihrer Schwägerin und regelmäßiger Treffen mit einem Freund ahnte niemand vom Martyrium der Tochter und von der Zerrissenheit der Mutter. Hätte sie nicht umfassend vor Gericht gestanden, wäre es womöglich nicht einmal zu einer Anklage gekommen, sagte ein Jurist.
Gegen solche Fälle sei man einfach nicht gewappnet, betonte eine Sprecherin des Jugendamtes. Ein schwacher Trost für Lea-Marie, die jetzt bei einer Pflegemutter lebt. Laut Einigung zwischen Anklage und Verteidigung stehen
ihr 30.000 Euro Schmerzensgeld zu, die Mandy N. ihrer Tochter zahlen muss.
(Katrin Schüler, ddp)

Motive bleiben unklar


Mandy N. muss für neun Jahre ins Gefängnis, weil sie ihrer kleinen Tochter über Jahre hinweg ätzende Essigessenz und Kalkreiniger eingeflößt hat. Damit blieb das Gericht unter der Forderung der Staatsanwaltschaft. (12.01.2007, 16:47 Uhr)
Rostock - Weil sie ihrer kleinen Tochter jahrelang ätzende Essigessenz und Kalkreiniger eingeflößt hat, muss eine Mutter aus Teterow (Mecklenburg-Vorpommern) neun Jahre ins Gefängnis. Nach Überzeugung des Rostocker Landgerichts hat die Frau die heute fünfjährige Lea-Marie 24 Mal gezwungen, die Substanzen in steigender Dosierung zu trinken. Die 27-Jährige hatte zu Prozessbeginn gestanden. Sie hatte auch zugegeben, das Mädchen mit kochendem Wasser übergossen zu haben, um die Unfallversicherung zu betrügen. Die Staatsanwaltschaft hatte zehn Jahre Haft gefordert, der Verteidiger
sechs Jahre und drei Monate. In seinem Urteilsspruch warf der Richter der Mutter vor, sie habe sich ihrem
wehrlosen Kind gegenüber brutal, kaltblütig und hinterlistig verhalten. Sie und der Vater des Kindes, dem keine Beteiligung oder Kenntnis an den Taten nachgewiesen werden konnte, stünden vor den Trümmern ihres eigenen Lebens.
Der Vater wurde zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er das Kind mit einem Teppichklopfer geschlagen haben soll. Er betritt dies im Prozess. Sein Anwalt kündigte an, Rechtsmittel einzulegen.

War Geldgier das Motiv?

Der Richter machte deutlich, dass der Prozess nicht spurlos an ihm vorbeiging: "Es fällt schwer, zu einer sachgerechten Entscheidung zu kommen, denn auch auf der Richterbank sitzen Väter und Mütter." Das Gericht habe
besonders das Bild des Mädchens verfolgt, das im Alter von 15 Monaten nichts ahnend in der Badewanne saß, als sie von ihrer eigenen Mutter aus "verabscheuungswürdigen Motiven" mit kochendem Wasser verbrüht wurde. Der
Mutter, die die Urteilsverkündung weitgehend regungslos anhörte, rechnete er vor, dass Lea-Marie fast ein Fünftel ihres jungen Lebens im Krankenhaus zubringen musste.


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Doch auch nach dem Urteilsspruch bleiben Fragen offen. Die wichtigste lautet wohl: Wie konnte eine Mutter ihrem eigenen Kind solche Qualen zufügen? Sie selbst konnte die Frage im Prozess nicht beantworten. Lea-Marie
sei ein anstrengendes Kind gewesen, sagte sie. Das Gericht schloss daraus, dass sie das Mädchen immer wieder verätzte, damit es für einige Zeit ins Krankenhaus kam und die Mutter ihre Ruhe hatte. Der psychiatrische Gutachter
hatte jedoch ausgesagt, Lea-Marie sei ein völlig unauffälliges Kind - kein Anzeichen also für eine angebliche Überforderung der Mutter. Das Motiv für die Verbrühung Lea-Maries nannte die Mutter dagegen: Sie
erhoffte sich von der Versicherung 1000 Euro als Ausgleich für die furchtbaren Schmerzen, die sie ihrem Kind zufügte. Lea-Marie mussten große Hautpartien transplantiert werden. Die Anklage verfolgte im Laufe des Prozesses nicht weiter, ob die regelrechte Folter mit Essigessenz und Kalkreiniger auch Versicherungsbetrug zum Ziel gehabt haben könnte. Im Falle einer dauerhaften Invalidität Lea- Maries hätte die Versicherung 150.000 Euro gezahlt.

Kinderärztin bemerkte nichts

Offen bleibt auch, warum das vier Jahre dauernde Martyrium Lea- Maries erst nach knapp 30 Krankenhausaufenthalten entdeckt wurde. Zuvor waren bei dem gemarterten Kind fälschlich unter anderem Angina, Lungenentzündung und
Lebensmittelvergiftung diagnostiziert worden. Die niedergelassene Kinderärztin, die das Mädchen über Jahre hinweg behandelte, bemerkte ihrer Aussage zufolge nichts von dem Leiden Lea- Maries. Dabei hatte ihr ein
Krankenhaus mitgeteilt, dass das Kind ängstlich, verstört und verwahrlost sei. Doch nichts passierte.

Auch die Nachbarn taten nichts, obwohl mindestens eine Zeugin immer wieder Geschrei und auch das Geräusch von Schlägen hörte. Ihre mehrfach zu Besuch weilende Mutter war drauf und dran, die Hausverwaltung zu informieren -
allerdings nicht aus Sorge um Lea- Marie, sondern wegen des störenden Lärms.

Der Verteidiger der Verurteilten stellte in seinem Plädoyer fest, seine Mandantin sei von niemandem an ihrem Tun gehindert worden. Auch der Richter sagte am Ende: "Lea-Maries Leidensweg hätte abgekürzt werden können, wenn
diejenigen, die davon hätten erfahren können, ja müssen, gehandelt hätten." Die Staatsanwaltschaft prüft nun, ob den behandelnden Ärzten oder dem Jugendamt fahrlässige Körperverletzung oder unterlassene Hilfeleistung
vorzuwerfen ist. (tso/dpa/AFP)
 

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11.01.2007  http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/nachrichten/prozesse/87886.asp


12.01.2007
  http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/nachrichten/prozesse-kinder-urteile/88028.asp