Freitag, 16. November 2007
Jugendfürsorge in Glückstadt
Skandal wird aufgerollt

Otto Behnck schüttelt immer wieder den Kopf: "Falscher Film", "Das ist
irre", "Kann sich heute keiner mehr vorstellen" - so lauten Satzfetzen, die
aus ihm raussprudeln. Der heute 56-Jährige war 1970 als Jugendlicher Insasse
der Landesfürsorgeanstalt in Glückstadt an der Elbe, einem der
berüchtigtsten westdeutschen Jugendheime der Nachkriegszeit. Verbrochen
hatte Behnck nichts, er trug nur damals das Haar etwas zu lang und hatte
Stress mit seinen Eltern. Drei Monate lang knüpfte er im Heim in Glückstadt
Fischernetze. Für 1000 Maschen gab es eine "Aktive", eine Zigarette. Ein
Anderer erhielt nach vier Jahren Arbeit in der Ziegelei 164 Mark. "Das war
Zwangsarbeit", sagt Behnck. "Und die muss noch bezahlt werden." Nun soll das
Thema aufgerollt werden.

Bis 1945 war das Gebäude in Glückstadt Konzentrationslager für
Arbeitshäftlinge. Fünf Jahre später wurden hier aufmüpfige Jugendliche und
Straftäter staatlicher Obhut anvertraut - bis 1974. Später wurde der
historisch belastete Komplex abgerissen. Schläge, unbezahlte Zwangsarbeit
und Drillich-Anzüge im Stil von KZ-Uniformen - Glückstadt war nach den
Berichten früherer Insassen kein Hort der Nächstenliebe.

Bundestag prüft Entschädigungsansprüche

Medienberichte, Entschädigungsforderungen und 7000 im Staatsarchiv in
Schleswig aufgetauchte Akten verleihen diesem bisher tabuisierten
Justizskandal neue Brisanz. Offensichtlich seien die Betroffenen erst jetzt
in der Lage, über ihre Erfahrungen zu reden, sagt Schleswig-Holsteins
Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD). Die Frage von
Entschädigungszahlungen müsse vom Petitionsausschuss des Bundestages geprüft
werden. Die Ministerin will aber eine Aufarbeitung der Akten ermöglichen,
dies wird 200.000 Euro kosten.


Otto Behnck in Glückstadt.Das Kieler Ministerium hat den
Heimerziehungsforscher Prof. Christian Schrapper von der Universität Koblenz
nun mit einer Analyse der Causa Glückstadt beauftragt. Er schätzt, dass in
den 50er bis 70er Jahren bis zu 70.000 Jugendliche pro Jahr in staatliche
Fürsorge kamen. Davon zu unterscheiden sind Hunderttausende Kinder und
Jugendliche, die zum Beispiel als Waisenkinder in Heimen lebten. "Glückstadt
gehörte unter den Fürsorgeeinrichtungen sowohl vom Zustand als auch vom
Personal her zu den am wenigsten guten Heimen", sagt Schrapper diplomatisch.
Er hält Berichte von Menschen wie Otto Behnck für authentisch.

Beschimpft und geprügelt

Behnck erzählt von Dingen wie diesen: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch
kam ein Erzieher nachts in sein Zimmer, zog die Decke weg und schrie "Du
Hund! Du Hund!" Dabei schlug er mit einem Totschläger immer wieder zwischen
die Beine des damals 19-Jährigen. Behnck war nach Glückstadt gebracht
worden, weil sich seine Eltern guten Glaubens an das Jugendamt gewandt
hatten. "Ich war Hippie, damit kamen sie nicht klar." Das Amtsgericht
Ahrensburg ordnete "Staatliche Fürsorge" an.

Die Papiere eines Insassen der Landesfürsorgeanstalt

Die Polizei verhaftete Behnck in der elterlichen Wohnung, im Streifenwagen
ging es nach Glückstadt, einer Kleinstadt 30 Kilometer westlich von Hamburg.
"Es war alles so irreal, ich konnte es nicht glauben, ich war 19." Diese
Maßnahme war möglich, weil in Westdeutschland ein junger Mensch bis in die
70er Jahre erst mit 21 Jahren volljährig wurde. Weihnachten 1970 besuchten
ihn plötzlich die Eltern. "Meine Mutter wurde kreidebleich wegen der
Zustände." Die Eltern setzten vor Gericht durch, dass sie wieder die
Fürsorge übertragen bekamen.

Landesfürsorge ersetzt Arbeitslager

Im damaligen Verhalten der Erzieher und den Methoden sieht Behnck eine
vielfältige Kontinuität zur Nazi-Zeit. So habe es Karteikarten gegeben, die
noch aus der NS-Zeit stammten. Die Aufschrift "Arbeitserziehungslager"
darauf wurde mit Bleistift durchgestrichen und mit "Landesfürsorgeheim"
überschrieben. Als Grund der Einlieferung stand auf der Karte des mit 15
Jahren nach Glückstadt gekommenen Frank Leesemann: "Asozial, kriminell, kann
sich der Gesellschaft nicht anpassen." Er hatte ein Mofa gestohlen.

"Die Ideologie lebte weiter. Ducken und Ja sagen, als solche Menschen
sollten wir Glückstadt verlassen", sagt Behnck, der heute als Markthändler
sein Geld verdient. Er spricht von Selbstmorden, die sich ereignet haben.
Auch das mit dem Brechen und Kaputtmachen habe geklappt. Er zählt Namen von
Heimkumpels auf und beschreibt den Werdegang nach der Entlassung: "9 Jahre
Knast, 17 Jahre Knast, 20 Jahre Knast". Der Boock war auch in Glückstadt,
sagt Behnk. Er meint Peter-Jürgen Boock, den Terroristen der Roten
Armee-Fraktion. "Da ist mächtig was schiefgelaufen."

Von Georg Ismar, dpa