F A Z – 08.11.2007

 

Ehe, Kinder, Haus - die Familie schien perfekt. Doch nach der Trennung entbrannte ein jahrelanger Streit bis an die Grenzen des deutschen Sorgerechts.

Von Bernd Fritz

Er Ingenieur und Deutscher, sie Krankenschwester und Ausländerin, Heirat mit Mitte zwanzig, das erste Kind nach zwei Jahren, das zweite nach dreien, Hauskauf, noch zwei Kinder, sie Hausfrau und Mutter, er Ernährer - die Familie P. Erfüllte seit ihrer Gründung im Jahr 1981 in mustergültiger Weise das demographisch wünschenswerte klassische Familienideal. Getrübt wurde das Bild durch den Umstand, dass das dritte Kind schwerbehindert zur Welt kam und das vierte kein Wunschkind mehr war. Die Mutter litt zunehmend unter Überlastung. Erziehungsprobleme und eheliche Spannungen traten auf, die sich verschärften, als der Vater während mehrerer Jahre berufsbedingt nur an den Wochenenden zu Hause sein konnte. Im Frühjahr 2000 wird die Frau mit der Situation nicht mehr fertig und beantragt Familienhilfe beim zuständigen Jugendamt in Bad Schwalbach. Es beginnt eine Entzweiung, die zu einem jahrelangen Streit ums Sorge recht führt. Der Fall wird dicke Akten füllen und ein Lehrbeispiel werden für die absurden rechtlichen Zustände in Familienrechtsstreitigkeiten.

Die „Hilfe zur Erziehung" (HzE) wird gewährt und ein Hilfeplan ohne Hinzuziehung des Vaters erstellt. Ein Sozialpädagoge führt zweimal in der Woche Gespräche mit den Eltern, zu denen P. von seinem 200 Kilometer entfernten Arbeitsort an reist. Nach fünfzehn Monaten wird die Hil
fe mit Verweis auf „die gefestigte Entscheidung der Frau zur Trennung" beendet. Eine Woche später erhält P. ein Schreiben der Anwältin seiner Frau. Die Ehe sei zerrüttet. Er wird aufgefordert, die eheliche Wohnung zu verlassen.

Da P. sich weigert, aus dem gemeinsa men Haus auszuziehen, nutzt die Ehefrau im Herbst 2001 eine dienstlich veranlasste Abwesenheit des Mannes, um die Trennung von Tisch und Bett innerhalb der Wohnung zu vollziehen, und teilt das Haus auf. Der in der Folge eskalierende
Konflikt kulminiert in Schreiereien, Hand greiflichkeiten und Inanspruchnahme der Polizei. Das Jugendamt, das mit der Ehefrau über das Ende der Familienhilfe hin aus in ständigem Kontakt bleibt, rät dieser, beim Familiengericht Bad Schwalbach das alleinige Sorgerecht für die beiden jüngsten Kinder zu beantragen, die noch minderj ährig sind.
Das geschieht im März 2002 in Form enes anwaltlichen Schriftsatzes, der die in der Familiengerichtspraxis bei hochstreitigen Fällen verbreiteten Eigenschaften hat.

Im Gegensatz zu den Anträgen in der Cochemer Praxis, die sich im Sinne der Deeskalation auf das Nötigste beschränken, wird darin schmutzige Wäsche gewaschen und dem Vater unter anderem: Gewalttätigkeit und sexueller Kindesmissbrauch unterstellt. P. beantragt seinerseits das alleinige Sorgerecht und stellt die erzieherische und hausfrauliche Eignung der Mutter in Abrede. Mehr als ein halbes Jahr lang - das ist die im konventionellen Verfahren durchschnittliche Wartezeit bis zur Verhandlung - reizen die Parteien einander mit Anwaltspost bis aufs Blut.

Im Oktober kann das Familiengericht Bad Schwalbach nur noch feststellen, dass bei den zutiefst verfeindeten Eltern „keine Basis für eine gemeinsame elterliche Sor ge" mehr vorhanden ist. Aus dem Gerichtssaal geht die Mutter als Verlierer: Der Vater erhält das alleinige Sorgerecht für die
beiden noch minderjährigen Kinder, zu dem wird ihm das eheliche Wohnhaus zur alleinigen Nutzung zugewiesen.

Zur Ruhe kommen Tochter Beatrice und der geistig behinderte Sohn Leon (Namen geändert) indessen so wenig wie ihre Eltern. Statt auszuziehen, begibt sich Frau P. auf den Instanzenweg. Sie spricht davon, dass ihr Mann das Familiengericht „gekauft" habe und dass bei dem Richter
ausländerfeindliche Motive vorlägen, und legt beim zuständigen Oberlandesgericht Beschwerde ein. Bis zur Entscheidung vergeht ein Jahr, das von Hass und Auseinandersetzungen angefüllt ist. Herr P. reicht die Scheidung ein. Im Beschwerdeverfahren sprechen sich Gutachter und Verfahrenspflegerin für den Verbleib der Kinder beim Vater aus. Im Oktober 2003 weist das Oberlandesgericht die Beschwerde der Mutter zurück und setzt eine Frist für ihren Auszug.

Das Urteil wird rechtskräftig. Frieden aber zieht in das Haus der Familie nicht ein. Es beginnt das verheerendste Kapitel des Falls. Zunächst nutzt Frau P. mit Wissen des Jugendamts eine Dienstreise ihres Mannes, um samt brauchbarem Hausrat umzuziehen. Der Mann geht dagegen vor Gericht. Alsbald sieht er sich mit einem neuen Verfahren konfrontiert. Obgleich die Kinder ihre fünf Gehminuten entfernt wohnende Mutter regelmäßig besuchen dürfen und die Hälfte der Schulferien mit ihr verbringen, will diese den Umgang gerichtlich regeln lassen.

Nach den gültigen Gesetzen zum Umgang haben beide Eltern „alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert" (Paragraph 1684 BGB). In der konventionellen Familiengerichtspraxis ist vor allem dieser Paragraph wirkungslos, da Verstöße dagegen kaum zu ahnden sind. So können Beatrice und der ständiger Begleitung bedürfende Leon von der Mutter massiv gegen den Vater beeinflusst werden. Die damals zehnjährige Tochter verteidigt diesen und lehnt schließlich jeden Umgang mit der Mutter ab. Der verstörte Sohn hingegen weigert sich mehrfach, nach dem Umgangswochenende zum Vater zurückzu kehren. Er wirft sich bei eisigem Wetter auf die Straße und gerät in der Wohnung in hysterische Angstzustände, so dass er notfallmäßig versorgt und in die kinderpsychiatrische Ambulanz gebracht werden muss. Der Arzt rät in seinem Befundbericht dringend zu geänderten Besuchsregelungen für Leon. Gleichwohl schreibt das Familiengericht Bad Schwalbach am 1. März 2004 den Umgang in der bisherigen Form fest.

Unter Hinweis auf den psychiatrischen Befundbericht legt P. Beschwerde beim Oberlandesgericht ein. Zehn Tage vor dem Verhandlungstermin im Juni weigert sich die Mutter, den damals sechzehnj ährigen Jungen nach Ablauf des Umgangswochenendes an den Vater zurückzugeben. Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird nach Paragraph 235 5tC.7ß bestraft, wer ein Kind einem sorgeberechtigten Elternteil entzieht oder vorenthält. P. erwirkt einen richterlichen Herausgabebeschluss. In dessen Begründung rügt der Bad Schwalbacher Familienrichter A., der ihm seinerzeit das alleinige Sorgerecht zugesprochen hatte, die „widerrechtliche Entziehung des Kindes" und ermächtigt den zuständigen Gerichtsvollzieher, „zur Durchsetzung der Kindesherausgabe Gewalt anzuwenden, ggf. die Wohnung der Mutter zu durchsuchen und Polizeikräfte zu seiner Unterstützung heranzuziehen".

Am darauffolgenden Tag, dem 17. Juni, wird die Vollstreckung der richterlichen Anordnung unter Mithilfe des Jugendamts und eines Pfarrerehepaars vereitelt. Nach dem der Vater, der Gerichtsvollzieher und zwei Vertreter der Jugendbehörde am Wohnhaus der Mutter eingetroffen sind (die Polizeibeamten halten sich auf Bitten Ps. im Hintergrund), gehen der Gerichtsvollzieher und die beiden Jugendamtsmitarbeiter in die Wohnung von Frau P. Nach einer Weile tauchen der in der Nachbar schaft wohnende Pfarrer und dessen Frau auf, die ebenfalls in die Wohnung gelangen. Nach anderthalb Stunden - die Polizisten sind inzwischen zu einem anderen Einsatz gefahren - kommt die Gruppe mit dem Jungen heraus, der von der ihn um klammernden Pfarrersgattin geführt wird.
Die Aufforderung des Vaters, sie solle seinen Sohn sofort loslassen, quittieren die Behördenvertreter mit höhnischem Lachen. Unter den Augen des Gerichtsvollziehers wird Leon in einen Kleinbus des Jugendamts bugsiert und in ein Heim verbracht. Die Heimleitung erhält von der Behörde Anweisung, jeglichen Kontakt Ps.zu seinem Sohn zu unterbinden.
Die Konsequenz aus dem behördlich begleiteten Rechtsbruch begreift P. bis heute nicht: Statt die Einstellung der Mutter gegen Recht und Gesetz strafrechtlich zu ahnden oder ihr durch Aussetzen des Umgangs die Möglichkeit zu nehmen, die Kindesentziehung zu wiederholen, sprechen
ihr die Justizorgane noch im selben Jahr das alleinige Sorgerecht für Leon zu.

Bis es dazu kommt, bestätigt das Oberlandesgericht zunächst am 24. Juni das Umgangsrecht der Mutter für den behinderten Jungen. . Die ungleich stabilere Tochter Beatrice hingegen wird der mütterlichen Beeinflussung bis zum Jahres ende entzogen. P. akzeptiert die Entscheidung, ist auch mit der vorübergehenden Heimbetreuung seines Sohnes einverstanden und willigt darin ein, dass dieser die anstehenden Sommerferien mit der Mutter verbringt. Die Rückkehr in die väterliche Obhut wird zum Ferienende, dem 9. August, vereinbart. Bereits am 3. August weiß das Jugendamt, dass Leon nicht zu P. zurückkehren wird, und verlangt telefonisch von dem
Bad Schwalbacher Familienrichter A., vor dem zu erwartenden Herausgabebeschluss das Amt anzuhören. Am 10. August - die Mutter hat Leon dem Vater tatsächlich abermals vorenthalten - ruft das Jugendamt den Direktor des Amtsgerichts an. Dieser sagt das nicht übliche rechtliche Gehör über den Kopf des Richters zu. Der neuerliche Herausgabeantrag Ps. Wird daraufhin vom Gericht zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht beschieden. Stattdessen kommt es am 15. September zur Verhandlung über einen zwischenzeitlich gestellten Antrag der Mutter auf Ubertragung des alleinigen Sorgerechts für Leon.

Vor die Abänderung eines einmal zugesprochenen Sorgerechts hat der Gesetzgeber hohe Hürden gestellt. Nach Paragraph 1696 ist sie nur möglich, wenn triftige Gründe vorliegen, die das Wohl des Kindes nachhaltig berühren. Einen solchen Grund ersah der Familienrichter A. nun in der Tatsache, dass PR von des Richters eigener Herausgabeanordnung an jenem 17. Juni Gebrauch gemacht hatte. Leon sei von der versuchten „Rückführung in den väterlichen Haushalt unter Hinzuziehung der Polizei und des Gerichtsvollziehers immer noch tief beeindruckt". Es sei
daher „nachvollziehbar", dass „seitens des Kindes massive Ängste und Vorbehalte gegen den Kindesvater bestehen". Mit Beschluss vom 27. September 2004 überträgt Richter A., unter Beifall des Jugendamts, das Sorgerecht auf Frau P. Der Vater legt gegen den Beschluss Beschwerde beim Oberlandesgericht ein, die am 22. Dezember abgewiesen wird. Damit nicht genug, wird sein Recht auf Umgang mit seinem Sohn, das von der negativen Sorgerechtsentscheidung nicht berührt wird, in der Folge von der Mutter vereitelt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann sich auch der sorgeberechtigte Elternteil der Entziehung schuldig machen, wenn er diese Straftat gegenüber dem umgangsberechtigten begeht (4 StR 594/9. PR versucht beim Familiengericht Bad Schwalbach sein Umgangsrecht durchzusetzen und beantragt zugleich, der Mutter das Sorgerecht wieder zu entziehen. Das Gericht sieht aber keine} Veranlassung, tätig zu werden. Der Vater erhebt im Juli 2005 Untätigkeitsbeschwerde beim Oberlandesgericht, die am 11. August verworfen wird. Am 4. Oktober weist das Familiengericht beide Anträge P. mit der Begründung zurück, Leon werde am 16. Oktober volljährig.

Am 7. Oktober 2005 beantragt die Rechtsanwältin der Mutter beim Familiengericht Bad Schwalbach, dem Vater auch die elterliche Sorge für die Tochter Beatrice wegzunehmen. Das Verfahren ist bis dato rechtshängig. Am 30. Dezember 2005 lehnt die Kreisverwaltung des Rhein
gau-Taunus-Kreises die Einführung des „Cochemer Modells" ab. Dessen „einseitige Präferenz" für die gemeinsame elterliche Sorge führe zu „Scheinlösungen", mit denen „die tiefgreifenden Konflikte und gegenseitigen Verletzungen, die zwischen Eltern im Zuge der Trennung entstanden sind, nicht gelöst werden" könnten. Im Gegensatz dazu beschließt die hessische Landesregierung im Sommer 2007, die Schlichtungspraxis des „Cochemer Modells" auf Hessen zu übertragen. Im Fallvon Trennung und Scheidung, so der hessische Justizminister Jürgen Banzer (CDU), seien die Kinder die Schwächsten und erlebten ihre Eltern vor Gericht als erbitterte Prozessgegner, die sich nicht scheuten, ihre Kinder zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Und Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) ergänzt: „Darüber verlieren Kinder die Sicherheit und Geborgenheit, die sie aber benötigen, um selbst zu stabilen und verantwortungsvollen Mitgliedern der Gesellschaft heranzuwachsen." Vater P., den leitende Mitarbeiter der Verwaltung des Main-Taunus-Kreises als „Querulanten" bezeichnen, versucht, sein Recht auf ein Familienleben und ein faires Verfahren weiter auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Seit März liegt seine Beschwerde unter dem Aktenzeichen 14089/07 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Das Gericht hat Deutschland bereits in zehn vergleichbaren Fällen wegen Verstoßes gegen die Konvention zum Schutz der Menschenrechte zur Verantwortung gezogen. Die elfte Verurteilung der deutschen Familiengerichtsbarkeit steht bevor.