Wenn der Nachwuchs nach Scheidungen entführt wird

Die Kinderjäger sind schneller als die Gerichte

Es ist leicht in der EU, dem missliebigen Ehepartner die Kinder abspenstig zu machen. Weil nationale Behörden das Problem elterlicher Kindesentführungen nicht in den Griff bekommen, nehmen sich dubiose Firmen der Sache an - und entführen die Kinder einfach zurück.

Von Klaus Bachmann, Brüssel

Seit mehr als sieben Jahren hat Pascal Gallez nichts mehr von seinem Sohn Antoine gehört. 1995, als sich die Eheleute Gallez zerstritten, nahm Pascals Frau den gemeinsamen Sohn mit nach Deutschland und ließ sich dort scheiden. Obwohl das Gericht ihr nur eingeschränkte Erziehungskompetenz bescheinigte, übertrug es ihr das ausschließliche Sorgerecht. In den drei Jahren, die Frau Gallez den kleinen Antoine bei sich hatte, gelang es ihr, ihn so gegen seinen Vater einzunehmen, dass der Richter Pascal Gallez sogar das Besuchsrecht für seinen Sohn entzog. Dass die Mutter den Sohn ohne Zustimmung des Vaters von Brüssel nach Deutschland gebracht hatte, spielte dabei keine Rolle. "Kindesentführung durch Eltern wird in Europa belohnt", sagt Gallez bitter. Zuletzt erfuhr er durch Zufall, dass das Frankfurter Einwohnermeldeamt ohne seine Zustimmung nun auch den Nachnamen seines Sohnes geändert hat. Man habe ihn dazu nicht angehört, weil man nicht gewusst habe, ob er noch lebe. Dabei korrespondiert er seit sieben Jahren mit dem Bundesjustizministerium, um seinen Sohn ausfindig zu machen.

Kindesentführungen durch Eltern sind in Europa keine Seltenheit. Und entgegen landläufiger Meinung sind europäische Nachbarländer darin viel häufiger verwickelt als Länder Nordafrikas oder des Nahen Ostens. Bis Ende September lagen beim belgischen Justizministerium 219 solcher Dossiers. Davon betrafen 60 Prozent Länder der EU.

Laut Childfocus, einer großen belgischen nichtstaatlichen Organisation, die sich mit dem Aufspüren vermisster Kinder beschäftigt, spielen sich sogar mehr als 70 Prozent aller elterlichen Kindesentführungen innerhalb der EU ab. Viele Fälle verraten, wie tief die nationalen Vorurteile in den Mitgliedländern noch sitzen, wenn es um Sorgerechts- und familienrechtliche Urteile geht. In Belgien erregte zum Beispiel der Fall von Philippe Paquay die Öffentlichkeit, dessen Frau, eine Schwedin, 1999 die drei gemeinsamen Töchter nach Schweden gebracht hatte. Das Familiengericht dort erkannte der Frau das Sorge- und Unterbringungsrecht zu, weil Paquay als Lehrer in Belgien nicht genug verdiene, um die Mädchen aufziehen zu können. Es berief sich dabei auf den Artikel 13 b des Haager Abkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen. Der Artikel ermächtigt Richter des Landes, in das ein Kind entführt wurde, die Rückkehr des Kindes zu verhindern, wenn dem Kind dadurch "ein schwerwiegender körperlicher oder seelischer Schaden" droht.

Aufgrund dieses Paragrafen und der Möglichkeit, Sorgerechtsfälle von Gerichten des Landes entscheiden zu lassen, in das ein Kind entführt wurde, diente das Haager Abkommen dazu, Entführungen nachträglich zu billigen. Wer die gemeinsamen Kinder dem ausländischen Partner entzog und sie in die eigene Heimat brachte, konnte sich im Normalfall darauf verlassen, dass die Richter seines Heimatlands ihren Vorurteilen erliegen und den ausländischen Partner seines Sorgerechts berauben würden. Das Abkommen sieht zwar auch die Möglichkeit vor, sich über die Justiz im Ausland an eine zentrale Stelle für Kindesentführungen zu wenden, um ein entführtes Kind ausfindig zu machen und zurückzubringen. Doch das dauert meistens so lange, dass das Kind dem zurückgebliebenen Ehepartner bereits entfremdet und damit die Grundlage für eine Rückgabe entfallen ist. Pascal Gallez wartete damals drei Jahre lang, bis er von der deutschen Justiz eine Auskunft darüber erhielt, wo sich sein Sohn befindet.

Hätte damals schon die Verordnung der EU-Justizminister gegolten, die Anfang Oktober in Brüssel verabschiedet worden ist, wären die Streitigkeiten des Ehepaars Gallez völlig anders verlaufen. Künftig wird demnach in der EU bei Ehescheidungen und Sorgerechtsfragen das Gericht des Landes zuständig sein, in dem sich die Eheleute zuvor aufhielten, wenn noch wenigstens ein Partner dort wohnt. Demzufolge hätten die Eheleute Gallez nur in Belgien geschieden werden können. Statt Pascal Gallez auch noch das Besuchsrecht zu nehmen, hätten deutsche Richter dann die Rückführung Antoines nach Belgien veranlassen müssen.

Entscheidungen über das Los von Kindern werden künftig grundsätzlich von den Gerichten des Landes getroffen, in dem sich das Kind vor seiner Entführung aufgehalten hatte. Staaten, deren Gerichte das Haager Abkommen zu sehr strapazieren, drohen Konsequenzen. Nach Inkrafttreten des EU-Verfassungsentwurfs wird die Einhaltung eines EU-Gesetzes von der Europäischen Kommission überwacht werden. Sie kann dann auch vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Mitgliedstaaten klagen, deren Justiz weiterhin ihren Vorurteilen gegen ausländische Ehepartner frönt. Für Pascal Gallez kommt das alles zu spät - auf alte Fälle wird das neue EU-Recht nicht anzuwenden sein.

Kein Wunder, dass sich verzweifelte Eltern auf andere Art und Weise helfen. In Arnheim an der deutsch-niederländischen Grenze gibt es seit drei Jahren die "Stiftung Kinderentführung". Hinter dem harmlos klingenden Namen verbirgt sich eine straff geführte, fast paramilitärische Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, von ihren Eltern entführte Kinder wieder zurück in die Niederlande zu holen - notfalls mit Gewalt. Das suggeriert unzweideutig die Webseite der Stiftung, auf der Stiftungschef Jacques Smits, ein ehemaliger Polizist, in kugelsicherer Weste zu sehen ist. Reportern erzählte Smits, bei seinen Rückholaktionen sei es gelegentlich auch notwendig, "Widerstand auszuschalten". Smits soll 2001 für eine Rückholaktion aus Venezuela sogar einen Reisekostenzuschuss von 3500 Gulden von der Gemeinde Assen bekommen haben.

Unternehmer wie Smits nennt der Volksmund in den Niederlanden Kidhunter, Kinderjäger. Bekannt wurde ihr Geschäftsgebaren, als Mitte September ein Den Haager Konkurrent von Smits in Belgien festgenommen wurde, als er bei einer Rückholaktion gewalttätig geworden war. So dubios die Praktiken anmuten - die Kinderjäger arbeiten normalerweise wesentlich schneller und effektiver als die im Haager Abkommen vorgesehenen "zentralen Stellen", die meist Monate brauchen, bis sie überhaupt reagieren.

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